Rezension: Still. Chronik eines Mörders

Thomas Raab – Still. Chronik eines Mörders

Still

  • Verlag: Droemer
  • Seitenzahl: 358
  • Teil einer Reihe?: Nein
  • Inhalt und Rezension: Der Klappentext nennt den Roman von Thomas Raab „Die Geschichte eines Mörders. Fallstudie, Psychogramm, Literarisches Porträt“. Und das ist in dem Text auf spannende und beklemmende Weise mit Sogwirkung ineinander verwoben. Karl Heidemann, der Protagonist, wird vom Leser von seinem ersten Schrei bis zu seinem Tod begleitet. Er ist eine gestörte Kreatur, denn die Gabe eines übersensiblen Gehörsinns, der ihn den Flügelschlag eines Schmetterlings qualvoll hören lässt, macht ihn zum einsamsten Menschen der Welt, der schon als Kind von allen missverstanden wird. Denn seinen einzige Gegenwehr gegen die Geräusche ist ein permanentes Schreien. In ihrer Verzweiflung über das nicht zu beruhigende „Schreikind“ verbannen die Eltern ihn in den Keller. Dadurch erhält er keine Sozialisierung und kann nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Eigentlich wollte er nichts Böses, als er so vielen Menschen den Tod brachte, denn er hatte stille Zufriedenheit auf dem Antlitz seiner toten Mutter gesehen und setzt deshalb Tod mit Ruhe, Schönheit und Erlösung gleich, einer Erlösung, die er fortan vielen Unglücklichen schenken will. Schon sehr früh begeht er seine ersten Morde und als der Vater dahinter kommt wendet sich dieser voller Abscheu von seinem Sohn ab. Karl ist zutiefst verletzt und verlässt seinen Keller, um vielen Unglücklichen die „Erlösung“ zu schenken, wie er in seiner kindlichen Naivität glaubt. Für ihn ist der Tod ein Geschenk aus Menschenhand. So zieht er mordend durchs Land mit der Sehnsucht nach Liebe im Herzen, die nicht befriedigt wird, bis er Marie trifft…
    Das Psychogramm von Karl, einem Menschen mit abnormen Fähigkeiten, mutet zugleich abstoßend und mitleidserregend an. Der Autor schafft es immer wieder, das Unrechtsempfinden des Lesers schwanken zu lassen. Man ist empört über die scheinbare Gleichgültigkeit des Mörders und gleichzeitig möchte man ihn in den Arm nehmen und ihm endlich das geben wonach er sich sehnt: Liebe, Geborgenheit, Anerkennung, Verständnis.
    Die Sprache des Autors ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, das Erzähltem ist eher langsam. Trotzdem zieht der Text den Leser unentrinnbar in den Bann und liefert eine virtuose Analyse mit Sogwirkung, die ein beklemmendes Grauen hinterlässt und die unbeantwortete Frage, ob Karl mangels ethischen Bewusstseins schuldig und verantwortlich zu nennen ist. Ein anregendes und aufwühlendes Buch.
    Vielen Dank an das Team vom Droemer Verlag, der mir dieses Buch freundlicherweise als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
  • Bewertung: 4 Sterne
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Über Zorro

Ich heiße Angelika Zörnig, bin Jahrgang 1948 und liebe Bücher und "Mon Cherie". Diese Kombination ist unschlagbar, besonders wenn es sich um Biografien, Familienromane, Psychodramen, Kurzgeschichten, Novellen und Lyrik handelt. Ansonsten gehe ich leidenschaftlich gern ins Theater und ins Kino oder beschäftige mich mit Märchenerzählen. Ich arbeite als Honorarkraft an einer Hamburger Grundschule. In dieser schönsten Stadt der Welt bin ich auch geboren und habe den größten Teil meines Lebens dort verbracht. Die Rezensionen werden von Stephi abgetippt.

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